Freitag, 12. November 2010

Treue und Wunder




14.10.1906, Hannah Arendt

Meines zweiten Wunders im bewussten Leben liebevoll zu gedenken und es zu ehren bewegt es mich gerade: meines  Lehrers Hermann Schwarz.
Er suchte mit seinen Schülern und seinen Schülerinnen das Bedeutsame und hält diesem die Treue. Nächste Woche wird er 91 Jahre alt. In Stille und Dichtung öffnete und öffnet er Quellen.

Ihm gewidmet seien folgende Zeilen aus Hannah Arendts Denktagebuch.

Hannah Arendt, Denktagebuch, S. 38
[19]

Treue: >>true<<: wahr und treu. Als wäre das, dem man die Treue nicht halten kann, auch nie wahr gewesen. Daher das große Verbrechen der Untreue, wenn sie nicht gleichsam unschuldige Untreue ist; man mordet das Wahr-gewesene, schafft das, was man selbst in die Welt gebracht hat, wieder ab, wirkliche Vernichtung, weil wir in der Treue und nur in ihr Herr unserer Vergangenheit sind: Ihr Bestand hängt von uns ab. So wie es von uns abhängt, ob Wahrheit in der Welt ist oder nicht. Wenn es die Möglichkeit der Wahrheit und des Wahr-gewesen-Seins nicht gäbe, wäre Treue Starrköpfigkeit; wenn es Treue nicht gäbe, wäre die Wahrheit ohne Bestand, ganz und gar wesenlos.

Gerade wegen dieses Zusammenhang zwischen Treue und Wahrheit gilt es, aus dem Begriff der Treue alle Starrköpfigkeit, das Sich-versteifen zu eliminieren. Die Perversion der Treue ist die Eifersucht. Ihr Gegensatz ist nicht die Untreue im gewöhnlichen Verstande – diese liegt vielmehr im Weiter des Lebens und der Lebendigkeit vorgezeichnet -, sondern nur das Vergessen. Die einzige wirkliche Sünde, weil sie Wahrheit, gewesene Wahrheit auslöscht. Die Art Treue, deren Gegensatz Untreue ist, ist die Perversion, die versucht, die Lebendigkeit aus der Welt zu schaffen. Versteinerung; ihre Konsequenz ist Eifersucht, nämlich einfach Wut, dass anderswo und bei einem Anderen das Leben weitergeht.
Hannah Arendt knüpft in mir am ersten Wunder an, das weiblich war,  Lehrerin.
Ilse Blumendorf, hinreißende Irgendwas - wir ahnten ja noch nichts von der Sphinx Frau: Mutter, Geliebte, Schwester, Kameradin, Führerin -  alles ununterscheidbar zusammengegossen damals   in einer  lebenswarmen erwachsenen Person, einer rätselhaften Stimme, und funkeldunkel glänzenden Augen:   Temperamentvolle Lehrerin für zwölfjährige Jungs. Lockte  den pubertierenden  Grundschüler  in die Bibliothek und vor die Tore der Wissenschaft.

Dieser Wunder – Lehrer – heute zu gedenken gab mir das schöne Zitat von Hannah Arend deutlichen Anlass am 21. Tag im Monat der Treue.


Gespeichert: 12.11.2010, UTC 18:10, gepostet:UTC 18:27.

1 Kommentar:

  1. Lieber Mundanomaniac
    Danke fuer diesen wunderschönen Artikel.
    Ich kann Dir gar nicht sagen ,wie sehr Du meine Seele damit beruehrst hast .

    Einen lieben Gruss
    Helga

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