Freitag, 25. Juli 2008

Hamburg 1943 - der Untergang

Nach einem insgesamt mäßig warmen Juli begann am 25. des Jahres 1943 eine subtropische Woche mit wolkenlosem Himmel und warmen Nächten. Aber am Sonntagmorgen des 25. heute vor 65 Jahren, ging über Hamburg die Sonne nicht auf. Die Stadt lag unter einer Kilometer hohen Staub- und Qualmwolke.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht, um 0:33 hatten die Sirenen zu jaulen begonnen und bis zur Entwarnung um 3:01 hatten 791 britische Bomber und Kampfflugzeuge damit begonnen, die Millionenstadt an der Unterelbe an vier folgenden Nächten auszulöschen. Das Unternehmen trug den Namen „Gomorrha“.


















Der Amoklauf der zum kollektiven Verbrecher gewordenen deutschen Nation hatte die ums Überleben in Würde und demokratischen Freiheiten dienenden Flieger der Alliierten ihrerseits in riesige Geschwader entschlossener Todesengel verwandelt. Vierzigtausend Hamburger Mütter, Kinder, Alte waren gezeichnet. Ihre letzte Lebenswoche war angebrochen. Dreimal so viele gingen wochen-, monate- und manchmal lebenslangen Qualen entgegen.

Äquinoctium 21.3.1943,
  11:57 UTC
Hamburg




Das Äquinoctium zeigt für einen Ort auf der Nordhalbkugel seine Stellung unter den Gestirnen zum Moment, wo die Mitte der Sonne den 0° Breitengrad = Äquator überquert von der Süd- auf die Nordhalbkugel.
Die Gestirnung über Hamburg am Äquinoctium 1943 hatte nichts Gutes verheißen: Pluto, der Gott, der den Zeitanteil der kommenden Generationen (und der Gestorbenen) in uns hütet, der darum ungerührt Gegenwart entzieht, dieser Gott war am 21.3.1943 in die Stadt gekommen. Sie war gezeichnet, als Opferstätte für den ganzen Umkreis.
Wer möchte schon Ort der Sühne sein in einer Zeit so großer, zum Himmel schreiender Schuld?
Und nicht nur Pluto auf dem Aszendenten gemahnte an die Schuld den Gestorbenen und den Ungeborenen gegenüber. Auch Aszendent Löwe ist kein lieblicher Ort in Zeiten großer Schuld gegen Götter und Menschen, wenn die Sonne in der Resonanz  einer Konjunktion, Opposition oder eines Quadrats mit Neptun steht,  denn immer bedeutet diese Resonanz:
Neptun = völlige Auflösung und Neubeginn an einem Ort = Sonne =Löwe-Aszendent.

Am 21. Juli wanderte der Rhythmus des Äquinoctiums, wie die Wellen eines Steins, der ins Wasser gefallen ist, nämlich nach allen Seiten,
  • in der oberen Hälfte, des Tier-/Meß-/Kreises ins achte Haus  das Fische-Regiment des Neptuns,
  • im Spiegel dazu in der unteren Hälfte erreichte er den Skorpion
Damit war die verhängnisvolle Zeitgleichung erreicht:
Pluto = Aufhebung der Zeit an diesem Ort

Der Hamburger Dichter Erich Nossack wurde unfreiwillig zum Chronisten des Gerichts über diese Stadt und ihre Bewohner. Eine Intuition hatte ihn und seine Frau Misi in der Mitte der Woche vor dem Untergang der Stadt an den Rand eines kleinen Dorfes in der Heide südlich von Hamburg verschlagen, wo ,länger als geplant, nämlich die folgenden Wochen, in einer Gartenhütte lebten:
„In der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag weckte Misi mich. Sie rief von oben: „Hörst du es gar nicht? Willst du nicht lieber aufstehen?“ Ich hatte den Alarm verschlafen; in der Heide hört man die Sirenen, die irgendwo in fernen Dörfern wie Katzen durcheinander heulen, nur, wenn die Windrichtung günstig ist. außerdem hatten wir uns die ganzen Jahre daran gewöhnt, nicht schon bei Alarm das Bett zu verlassen, sondern erst, wenn stärkeres Abwehrfeuer einen tatsächlichen Angriff vermuten ließ; eine Gewohnheit, die vielen das Leben gekostet hat.
Ich wollte auch diesmal eine unwillige Antwort geben und mich auf die andere Seite drehen, da hörte ich es. Ich sprang auf und rannte barfuß ins Freie, in dieses Geräusch hinein, das wie eine drückende Last zwischen den klaren Sternbildern und der dunklen Erde schwebte, nicht da und nicht dort, sondern überall im Raume; es gab keine Flucht davor.
Im Nordwesten zeichneten sich die Hügel diesseits und jenseits der Elbe vor der schmalen Dämmerung des vergangenen Tages ab. Lautlos duckte sich die Landschaft an den Boden, um nicht gefunden zu werden. Nicht weit entfernt stand ein Scheinwerfer; man hörte Kommandorufe, die sofort jeden Zusammenhang mit der Erde verloren und im Nichts zerflatterten. Nervös tastete der Scheinwerfer den Himmel ab, manchmal traf er sich mit anderen Zeigern, die gleich ihm im weiten Ausschlag pendelten; dann bildeten sie für einen Augenblick geometrische Figuren und Zeltgerüste, um erschrocken wieder auseinander zu fahren. Es war, als söge dies Geräusch zwischen Himmel und Erde ihr Licht auf und machte sie sinnlos. Aber die Sterne leuchteten wie im Frieden durch das unsichtbare Unheil hindurch.
Man wagte nicht, Luft zu holen, um es nicht einzuatmen. Es war das Geräusch von achthundert Flugzeugen, die in unvorstellbaren Höhen von Süden her Hamburg anflogen. Wir hatten schon zweihundert oder auch mehr Angriffe erlebt, darunter auch sehr schwere, aber dies war etwas völlig Neues. Und doch wusste man gleich: es war das, worauf jeder gewartet hatte, das wie ein Schatten seit Monaten über allem unseren Tun lag und uns müde machte, es war das Ende. Dies Geräusch sollte anderthalb Stunden anhalten, und dann in drei Nächten der kommenden Woche noch einmal. Gleichmäßig hielt es sich in der Luft. Gleichmäßig hörte man es auch dann, wenn sich das viel lautere Getöse der Abwehr zum Trommelfeuer steigerte. Nur manchmal, wenn einzelne Staffeln zum Tiefangriff ansetzten, schwoll es an und streifte mit seinen Flügeln den Boden. Und doch war dies furchtbare Geräusch wieder so durchlässig, dass auch jeder andere Laut zu hören war: nicht nur die Abschüsse der Flak, das Krepieren der Granaten, das heulende Rauschen der abgeworfenen Bomben, das Singen der Flaksplitter, nein, sogar ein ganz leises Rascheln, nicht lauter als ein dürres Blatt, , das von Ast zu Ast fällt, und wofür es im Dunkeln keine Erklärung gab. […]
Ich ging in jenen Nächten auf und ab auf dem schmalen Streifen zwischen dem Gemüsegarten und dem Drahtgitter, das das Grundstück einzäunte; dort war der Blick nach Norden frei. Manchmal stolperte ich über einen Maulwurfshügel; einmal fiel ich hin, weil sich mein Fuß im Himbeergebüsch verwickelt hatte.
Was es für die Augen zu sehen gab, war wenig und immer das gleiche. Es ist auch nicht das wichtigste. Über Hamburg standen zahlreiche Leuchtschirme, die der Volksmund Tannenbäume nennt. Manchmal zehn Stück, manchmal nur zwei oder einer, und wenn einmal keiner zu sehen war, schöpfte man Hoffnung, dass es vorbei wäre; bis wieder neue abgeworfen wurden. Viele lösten sich auf, während sie nieder sanken, und es sah aus, als flössen glühende Metalltropfen vom Himmel auf die Städte. Anfangs konnte man diese Leuchtschirme verfolgen, bis sie am Boden verlöschten; später verschwanden sie in einer Rauchwolke, die durch die Feuer der Stadt von unten her rot angestrahlt war. Die Rauchwolke wuchs von Minute zu Minute und kroch langsam nach Osten. Ich achtete nicht, wie bei früheren Angriffen, auf die Richtung der Scheinwerfer und die Brennpunkte des Abwehrfeuers. Die Leuchtspuren der kleinen Flak sah man nur ganz zart, und die Granaten der schweren Geschütze explodierten überall. Nur wenn das Feuer genau über mir lag und die Splitter pfeifend und klatschend in nächster Nähe zur Erde kamen, trat ich unter das Dach der Veranda. Einige wenige Flugzeuge gerieten in Brand und fielen wie Meteore ins Dunkel. Aber es erweckte kein jägerisches Interesse wie früher. Wo sie aufschlugen, erhellte sich die Gegend für Minuten. Einmal stand der Schattenriss einer fernen Windmühle vor einer solchen weißen Helligkeit. Das Gefühl grausamer Befriedigung über einen abgeschossenen Feind blieb aus. Ich entsinne mich, dass bei einer solchen Gelegenheit irgendwelche Weiber auf dem Dache des Nachbarhauses in die Hände klatschten, und wie ich damals voller Zorn der Worte des Odysseus gedachte, mit denen er der alten Pflegerin über den Tod der Freier zu jauchzen verbot:
Freu dich, Mutter im Herzen; doch halte dich,
dass du nicht frohlockst!
Über erschlagene Menschen zu jauchzen, ist
grausam und Sünde.

Aber nun war nicht mehr die Zeit, wo man mit so kleinlichen Unterschieden rechnete wie dem zwischen Freund und Feind. Und plötzlich war alles in das milchige Licht der Unterwelt getaucht. Ein Scheinwerfer hinter mir suchte falsch über dem Erdboden. Ich wandte mich erschrocken um, und da sah ich, dass selbst die Natur im Hass gegen sich selbst aufgestanden war. Zwei stammlose Kiefern hatten den friedlichen Bann ihres Daseins durchbrochen und sich in schwarze Wölfe verwandelt, die gierig nach der blutenden Mondsichel sprangen, die vor ihnen aufging. Die Augen leuchteten weiß und Geifer troff ihnen aus den gefletschten Mäulern.
War mir, der ich irgendwo im Nichts auf und ab ging, körperlich und ohne die Kraft eines Gedankens, war mir dieser Hass nicht bekannt? habe ich ihn nicht bewacht jahrzehntelang und mich gegen seinen Ausbruch gestemmt? Habe ich nicht gewusst, dass er eines Tages ausbrechen würde, und habe ich nicht auch diesen Tag herbeigesehnt, weil er mich endlich von der Aufgabe des Wächters erlösen würde? Ja, ich habe, wie ich es jetzt weiß, immer gewusst, dass es sich bei dem Schicksal der Stadt um mein Schicksal handeln würde. Und wenn es so ist, dass ich das Schicksal der Stadt herbeigerufen habe, um mein eigenes Schicksal zur Entscheidung zu zwingen, so habe ich auch aufzustehen und mich am Untergang der Stadt schuldig zu bekennen.
Wir haben uns alle mit dem Gedanken einer Sintflut beschäftigt, die Zeitereignisse brachten es mit sich. Hieß das nicht schon die Vergangenheit im Stich zu lassen? Und wie viel geistreiches Geschwätz, wie viel Prahlerei war noch dabei; denn wenn wir uns ernsthaft die Frage vorlegten, was wir über eine morgige Sintflut hinüberretten wollten, um es den Überlebenden zu erhalten, wo war dann etwas, das uns so notwendig schien, dass wir uns bis zum letzten Atemzuge dafür eingesetzt hätten? Woran glaubten wir so stark, dass die Mächte der Zerstörung diesen Glauben anzurühren scheuten, um nicht dem, was sie zerstörten, zum ewigen Leben zu verhelfen? Was von all den Dingen, die wir gebrauchten und die uns belasteten, war denn noch unser? Ich wage heute an der Lauterkeit der Motive derer zu zweifeln, die vor der Katastrophe warnten und zur Vorbereitung aufriefen. Wünschten sie nicht vielleicht die Katastrophe herbei, um andere auf die Knie zu zwingen, während sie selbst sich im Chaos beheimatet fühlten? Und trieb sie nicht die Lust, sich selbst zu erproben, aber auf Kosten des vertrauten Daseins?
Ich habe bei allen früheren ngriffen den eindeutigen Wunsch gehabt: Möge es recht schlimm werden! So eindeutig, dass ich beinahe sagen möchte, ich habe diesen Wunsch laut gegen den Himmel ausgerufen. Nicht Mut, sondern Neugier, ob mein Wunsch in Erfüllung gehe, ist es gewesen, was mich niemals in den Keller gehen ließ, sondern auf dem Balkon der Wohnung gebannt hielt. Ich erwähne dies nicht, um mich durch seltsame Gespräche wichtig zu machen. Ich glaube, etwas aussprechen zu müssen, von dem ich vermute, dass es unzählige Männer ähnlich empfunden haben, nur dass sie sich dessen nicht bewusst waren, noch sich dazu bekennen würden. Man wird kommen und sagen: Dies ist immer so, und dies ist männlich: wir müssen zerstören, um zu zeugen. Wie aber, wenn die Erde spräche: Ich habe euch geboren, weil ich mich sehnte, mehr zu sein als Erde. Wo ist nun eure Tat? – Und wir werden dann nicht mehr die Kraft des Wünschens haben wie jener Indianer, der als letzter seines Stammes am Meerufer saß und rief: Was soll ich nun machen? Soll ich Orion werden?
Da wir nicht mehr an uns glauben, was sind wir dann noch? Ausgehöhlt von einer lasterhaften Nacht. Reden wir doch nicht von Aufrechtstehen und Zeugen! –
Aber nun war der Hass außer mir, und ich war frei davon. Ich wankte am Ufer der zerstörten Welt auf und ab, und es stöhnte durch mich hindurch: Ach Gott? Ach Gott? so laut, dass Misi es trotz des Getöses des Untergangs vernahm und unter der Erde nach mir rief. Und ich lief dann für einen Augenblick zu ihr und sagte: Das ist nicht mehr zu ertragen. Wir lehnten uns aneinander, nur lose, und voller Scheu, unsere Ohnmacht offenbarer werden zu lassen. Wie zwei Pferde, die im gleichen Geschirr waren, und das eine legte den Kopf auf den Nacken des Gefährten, und dann schüttelten beide mit scheinbarem Unwillen die kurze Zärtlichkeit von sich ab. Ich lief wieder hinaus und ließ Misi allein. Wäre es nicht besser gewesen, ich hätte im Kellerdunkel bei ihr gesessen, und durch ein wenig gemeinsame Körperwärme würden wir uns eine Zuflucht vor dem Unwetter erträumt haben? Oder ich hätte ein Märchen erzählt, um einen Regenbogen über den Abgrund, an dem der Weg durch die verhasste Vergangenheit abbrach, zu spannen, ein Märchen, das so beginnt: Morgen, wenn alles vorbei ist, dann … Was in jenen Nächten von Menschen getan oder unterlassen wurde, das geschah oder unterblieb aus Ohnmacht.
Gegen halb zwei war das Gericht zu Ende. Aus einer unwirklichen Entfernung klang das Signal der Entwarnung herüber, so verschüchtert, als wage es nicht zu verlangen, dass jemand die Lüge glaube. Der Nordhimmel war rot wie nach Sonnenuntergang. Über die nahe Autobahn heulten die Sirenen der Feuerwehren, die aus den Nachbarstädten zu Hilfe eilten. Und damit setzte ein pausenloses Fahren auf allen Straßen der Umgebung ein, am Tage und nachts, diese Flucht aus Hamburg, ohne zu wissen wohin. Es war ein Strom, für den es kein Bett gab …
Hans Erich Nossack, Der Untergang, Hamburg 1981, S. 12 – 20,






















Gespeichert: UTC 19:40, gepostet: 19:51.

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